Ohne Rüstung Leben e.V.
Frieden politisch entwickeln

Nachrichten - 30. Mai 2022

"Lasst uns bitte nicht allein!" - Interessantes und Bewegendes rund um den Katholikentag

Podium auf dem Katholikentag 2022 mit Ohne Rüstung Leben

Rund um den Katholikentag 2022 in Stuttgart war Ohne Rüstung Leben an drei wichtigen Veranstaltungen beteiligt. Es ging dabei um die geplante Aufrüstung der Bundeswehr und um Christliche Friedensethik. Besonders bewegend: Der ergreifende Bericht zweier Eltern aus Mexiko, die Gerechtigkeit für ihre ermordeten Kinder fordern.

 


 

"Das Milliarden-Sondervermögen wird keinen Frieden bringen!"


"Das 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm: Mehr Waffen für den Frieden? Atombomben für unsere Sicherheit?". Unter diesem Motto hatte der Friedenstreff Stuttgart-Nord am Abend des 27. Mai 2022 zu einem Podium mit Martin Kirsch, Autor und Referent bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI), und Simon Bödecker, Referent für Öffentlichkeitsarbeit bei Ohne Rüstung Leben, eingeladen.


Martin Kirsch stellte anschaulich die Vorgeschichte des 100-Milliarden-Sondervermögens vor. Der fundierte Blick in die Vergangenheit lohnt sich: Zeigt sich dabei doch, dass die "Zeitenwende" in Wirklichkeit nichts anderes ist, als die Umsetzung von Plänen und Strategien, die auf Bundes- und NATO-Ebene schon lang vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine entwickelt worden waren.

Simon Bödecker kritisierte das Sondervermögen für die Bundeswehr als intransparent und undemokratisch. Der Bundestag solle Milliardenschulden beschließen und dabei die Schuldenbremse aushebeln, bekomme aber bislang noch nicht einmal einen Wirtschafts- oder Tilgungsplan vorgelegt.


Ralf Chevalier (Friedenstreff Stuttgart-Nord), Simon Bödecker und Martin Kirsch. Foto: Ohne Rüstung Leben

Ralf Chevalier (Friedenstreff Stuttgart-Nord), Simon Bödecker und Martin Kirsch. Foto: Ohne Rüstung Leben

Scharfe Kritik an nuklearer Teilhabe

Für Ohne Rüstung Leben sei sicher: Die geplante Aufrüstung bringt keinen Frieden in Europa. Zudem sei das zusätzliche Geld vermutlich gar nicht nötig, würde man zunächst die gravierenden strukturellen Probleme der Bundeswehr angehen.

Das Festhalten Deutschlands an der nuklearen Teilhabe - durch die geplante Beschaffung neuer F-35-Kampfflugzeuge - kritisierten beide Redner scharf. "Es kann nicht sein, dass Deutschland einerseits international vom Ziel einer atomwaffenfreien Welt spricht, gleichzeitig aber selbst für Milliarden neue Atombomber anschafft", so Simon Bödecker.

 


 

"Sprechen Sie miteinander! Hören Sie sich zu!"


Im Haus der Wirtschaft fand am 28. Mai eine Diskussion über Christliche Friedensethik und internationale (Sicherheits-)Politik statt. Dabei sprachen Kerstin Deibert, Referentin für Frieden und Entwicklung bei Ohne Rüstung Leben, Klaus Ebeling, Philosoph und Sozialethiker, der württembergische Landesbischof Dr. h.c. Frank Otfried July und Stefan Maaß, Friedensbeauftragter der Evangelischen Landeskirche in Baden.


Im Mittelpunkt stand hier die Frage, was es heißt, international Verantwortung zu übernehmen. Kerstin Deibert kritisierte eine einseitige Verengung der Debatte über Sicherheit und Verantwortung auf das Militärische. Es sei eine zentrale zivilgesellschaftliche Aufgabe, die Alternativen - also zivile Mittel - in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Dringend nötig, so Deibert, sei ein langfristiger Fokus auf Krisenprävention und Klimaschutz, um künftigen Generationen ein würdiges Leben zu ermöglichen:

"Wenn ein Tornado der Bundeswehr vom Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz startet, stößt er 14,6 Tonnen CO2 pro Flugstunde aus. Das ist so viel wie drei durchschnittliche Personen im Jahr verbrauchen. Wir müssen endlich erkennen, dass Aufrüstung und Militarisierung im Widerspruch stehen zu Klimaschutz und Krisenprävention."

  Kerstin Deibert auf dem Podium des Katholikentages. Foto: Ohne Rüstung Leben

Kerstin Deibert auf dem Podium des Katholikentages. Foto: Ohne Rüstung Leben


Wie mit jenen umgehen, die nicht auf Gewalt verzichten?

Der Philosoph Klaus Ebeling unterstrich die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Friedensarbeit, sprach sich jedoch für ein Nebeneinander von Militär und ziviler Konfliktbearbeitung aus. Man solle diese, so Ebeling, "als Komplementäre verstehen, nicht als Gegensätze". Schwierig werde es bei der politischen Entscheidung, wann welches Mittel einzusetzen sei - hierfür forderte er mehr Auseinandersetzungen und Debatten.

Landesbischof July berichtete, dass ihn seit Februar 2022 die Frage beschäftige, ob nun eine neue christliche Friedensethik nötig sei. Die Kirche stehe zu ihrer Verantwortung als Teil der Zivilgesellschaft, er selbst verstehe sich durchaus auch als (nicht dogmatischer) Pazifist. Er frage sich jedoch, wie man von einem pazifistischen Standpunkt aus mit jenen umgehen könne, die den Verzicht auf Waffengewalt - wie Putin - nicht akzeptierten.

Stefan Maaß, Landesbischof July und Moderator Richard Bösch sprechen über "Sicherheit neu denken". Foto: Ohne Rüstung Leben

Stefan Maaß, Landesbischof July und Moderator Richard Bösch sprechen über "Sicherheit neu denken". Foto: Ohne Rüstung Leben

Perspektiven für Schritte aus der militärischen Sicherheitslogik

Stefan Maaß stellte mit dem Szenario "Sicherheit neu denken" einen Diskussionsbeitrag der Badischen Landeskirche vor, der im Anschluss kontrovers diskutiert wurde. Einige der Annahmen wurden mittlerweile leider von der Entwicklung überholt. Dennoch biete das Szenario Perspektiven und die Chance, mögliche Schritte aus der militärischen Sicherheitslogik aufzuzeigen.

Die kontroverse, aber sehr faire Diskussion fasste Moderator Richard Bösch (pax christi Rottenburg-Stuttgart) in seinem Schlussplädoyer an das Publikum zusammen: "Sprechen Sie miteinander. Hören Sie sich zu!". Nur durch den Dialog mit vermeintlich Andersdenkenden könnten Gräben und "Filterblasen" überwunden und neue Ideen entwickelt werden.

 


 

"Wir haben unsere Kinder verloren. Aber auch unsere Angst."


Die Veranstaltung "G36-Exporte nach Mexiko: Der Zusammenhang von Waffenlieferungen und Menschenrechtsverbrechen" wurde völlig unerwartet aus dem Programm des Katholikentages gestrichen. Um unsere Gäste aus Mexiko dennoch zu Wort kommen zu lassen, entschieden sich die beteiligten Organisationen kurzfristig, das Podium an einem anderen Veranstaltungsort selbst durchzuführen.

Rechtsanwalt Holger Rothbauer aus Tübingen berichtete dort zunächst über seine Strafanzeigen wegen illegaler Kleinwaffenexporte von "Heckler & Koch" sowie "Sig Sauer", die zu historischen Gerichtsurteilen geführt hatten.

Anschließend ergriffen María del Tránsito Pina und Javier Barajas das Wort. Das Lehrer-Ehepaar war in Begleitung der Anwältin Sofía de Robina aus Mexiko angereist. Auf eindrückliche Art und Weise machten sie deutlich, was Waffenlieferungen und Gewalt anrichten - eine Perspektive die sonst oftmals viel zu kurz kommt und die große Betroffenheit auf dem Podium und im Publikum auslöste.


Massengrab mit 80 Toten

María del Tránsito Pina und Javier Barajas haben innerhalb der letzten drei Jahre ihre beiden erwachsenen Kinder verloren: Ihre Tochter Guadalupe, die ebenfalls als Lehrerin arbeitete, fiel am 29. Februar 2020 dem gewaltsamen Verschwindenlassen zum Opfer. Nach einem Jahr der verzweifelten Suche gemeinsam mit anderen betroffenen Familien fanden die Eltern und ihr Sohn Javier den Leichnam in einem versteckten Massengrab mit 80 weiteren Toten.

Der Sohn der Familie, Javier, schloss sich daraufhin der regionalen Suchkommission an, um die Angehörigen weiterer Opfer bei ihrer gefährlichen Suche nach der Wahrheit zu unterstützen. Dieses Engagement führte dazu, dass er am 29. Mai 2021 von Unbekannten erschossen wurde. Die Eltern müssen nach massiven Drohungen nun ebenfalls um ihr Leben fürchten und haben ihre Heimatregion verlassen.

María del Tránsito Pina und Javier Barajas. Foto: Ohne Rüstung Leben

María del Tránsito Pina und Javier Barajas. Foto: Ohne Rüstung Leben


"Wir werden weiter unsere Stimme für jene erheben, die das selbst nicht können"

Mit ergreifenden Worten schilderten sie in Stuttgart ihr Schicksal und die Angst der Familien in ihrer von Waffengewalt geprägten Heimatregion Guanajuato. 100.000 Menschen in Mexiko seien bereits gewaltsam verschwunden, die Behörden täten jedoch nichts, um aufzuklären. Mehr noch, sie seien oft in das organisierte Verbrechen verwickelt, weshalb viele Angehörige sich fürchteten, Anzeige zu erstatten. Sie selbst hätten den festen Willen, die anderen Eltern zu begleiten, bis jedes Kind gefunden wurde!

"Wir haben unsere Kinder verloren. Aber wir haben dadurch auch unsere Angst verloren. Und deshalb werden wir weiter unsere Stimme für jene erheben, die das selbst nicht können", sagte María del Tránsito Pina. "In unserem Staat gibt es so viele Todesfälle, weil es so viele Waffen gibt! Und es werden noch immer mehr Waffen geliefert - wie viele Menschen sollen denn noch ermordet werden?" fragte Javier Barajas unter Tränen.

Das Podium mit Sofía de Robina (3.v.l.), den Moderatorinnen Carola Hausotter und Charlotte Kehne sowie Anwalt Holger Rothbauer. Foto: Ohne Rüstung Leben

Das Podium mit Sofía de Robina (3.v.l.), den Moderatorinnen Carola Hausotter und Charlotte Kehne sowie Anwalt Holger Rothbauer. Foto: Ohne Rüstung Leben


Druck aus Deutschland ist dringend nötig!

Das Ehepaar und die Anwältin Sofía de Robina würdigten das große Engagement der deutschen Friedensorganisationen gegen Waffenexporte. Die wichtigen Entwicklungen hierzulande seien ein gutes Vorbild für Länder wie die USA, die weiterhin massiv Waffen nach Mexiko liefern. Gleichzeitig richteten sie einen starken Appell an die deutsche Zivilgesellschaft und die Politik, sich für eine Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen in Mexiko einzusetzen.

"Die Stimmen aus Deutschland sind dringend nötig, um Druck auf die mexikanische Politik auszuüben", betonten sie. "Lasst uns bitte nicht allein!"


In diesem Video erfahren Sie mehr über María del Tránsito Pina und Javier Barajas [Englische Untertitel verfügbar]

 

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