Nachrichten - 18. Juli 2024 - UPDATE: 18. November 2024
US-Mittelstreckenraketen sollen nach Deutschland kommen – droht jetzt ein neues Wettrüsten?
Es ist eine erschreckende Neuigkeit: Am Rande des NATO-Gipfels im Juli 2024 in Washington D.C. wurde bekannt, dass US-Waffen nach Deutschland kommen sollen, die problemlos Moskau erreichen. Droht jetzt ein neues Wettrüsten, gar mit Atomwaffen? Ohne Rüstung Leben fasst zusammen, was dazu bislang bekannt ist.
Was genau haben die USA und Deutschland angekündigt?
In einer gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung und der US-Regierung heißt es, dass ab 2026 weitreichende US-Waffensysteme in Deutschland stationiert werden sollen - "als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung". Die Raketen und Marschflugkörper sollen "über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen". Dies diene der "integrierten europäischen Abschreckung".
Diese Ankündigung kommt einer Zäsur gleich. Während des Kalten Krieges waren ab 1983/1984 zahlreiche atomar bestückte US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert, was bereits im Vorfeld zu großen Protesten aus der Bevölkerung führte. Der INF-Vertrag zwischen der Sowjetunion und den USA verbot derartige landgestützte Mittelstreckenwaffen schließlich. 1991 wurden die letzten aus Deutschland abgezogen.
35 Jahre später droht nun also nach der Aufkündigung des INF-Vertrages durch US-Präsident Trump und dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine erneute Konfrontation mit Mittelstreckenwaffen in Europa.
Welche US-Waffen sollen in Deutschland stationiert werden?
Laut der Erklärung sollen "SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen" stationiert werden. Die SM-6 ist ursprünglich eine ballistische Luftabwehrrakete mit einer Reichweite von unter 500 km und soll offenbar in der neuen Boden-Boden-Variante 1B mit einer Reichweite bis zu 1.600 km nach Deutschland kommen.
Tomahawk-Marschflugkörper können mindestens 1.700 km weit fliegen und so problemlos auch Ziele in Russland erreichen. Sie sind zwar recht langsam, können aber sehr niedrig fliegen und genau manövrieren. Damit sind sie schwer zu orten. Die USA verfügen seit den frühen 1980er-Jahren über Tomahawks in verschiedenen Versionen. In den letzten Jahrzehnten konnten die Marschflugkörper nur von Schiffen gestartet werden - eine Folge des INF-Vertrages.
In Deutschland soll für Transport und Abschuss der beiden Waffentypen daher voraussichtlich das völlig neu entwickelte Typhon-System zum Einsatz kommen. Es hat die Dimensionen eines Sattelschleppers, auf dem die Rakete bzw. der Marschflugkörper zum Start in einer von vier Starterzellen (pro LKW) senkrecht aufgerichtet wird.
Was hat es mit den Hyperschallwaffen auf sich?
Die "in Entwicklung befindlichen hypersonischen Waffen" beziehen sich laut Berichten auf das Projekt "Dark Eagle", eine konventionelle Boden-Boden-Rakete. Ihre besonders hohe Geschwindigkeit (bis zu Mach17, d.h. mehr als 20.000 km/h) und ihre Reichweite von mindestens 2.700 km, kombiniert mit präziser Steuerbarkeit und einer unvorhersehbaren Flugbahn sorgt dafür, dass die "Dark Eagle" auch Ziele weit hinter Moskau sehr schnell erreichen und dabei nahezu unmöglich abgefangen werden können. Sowohl Russland als auch die USA befinden sich seit einigen Jahren in einem Entwicklungswettlauf um derartige Hyperschallwaffen.
Bereits im Jahr 2021 reaktivierte die US-Armee das 56th Artillery Command in Wiesbaden. Es koordiniert die 2. Multi Domain Task Force der US Streitkräfte, die in der hessichen Landeshauptstadt stationiert ist. Diesem Verband werden sowohl die "Dark-Eagle"-Hyperschallwaffen als auch die weiteren Mittelstreckenwaffen in Deutschland zugeordnet.
Ab wann und wohin sollen die US-Waffen kommen?
Die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in Deutschland soll ab 2026 erfolgen. Ein genauer Standort wurde bislang nicht genannt. Wahrscheinlich ist eine Stationierung im oberfränkischen Grafenwöhr (Bayern). Dort sitzt die 41. US-Feldartillerie Brigade, zudem ist dies von allen denkbaren Standorten in Deutschland der östlichste. Die fahrbaren Systeme können jedoch ohnehin an wechselnden Standorten eingesetzt werden.
Offenbar ist geplant, die US-Waffen so lange in Deutschland zu belassen, bis die Bundesrepublik und weitere europäische Länder über entsprechende eigene Mittelstreckenraketen verfügen. Hierzu soll das "Deep Precision Strike System" ELSA mit einer Reichweite von 2.000 Kilometern dienen, das Deutschland, Italien, Frankreich und Polen entwickeln möchten. Die Bundeswehr hat zudem angekündigt, gemeinsam mit Norwegen eine eigene Hyperschallwaffe zu planen.
Hat die NATO wirklich eine "Fähigkeitslücke"?
Verteidigungsminister Pistorius spricht von einer "ernstzunehmenden Fähigkeitslücke" angesichts der Bedrohung durch russische Kurz- und Mittelstreckensysteme. Was ist davon zu halten? Russland verfügt erwiesenermaßen über Iskander-Systeme an der Grenze zur NATO, etwa in Kaliningrad. Deren Reichweite ist immer wieder Thema intensiver Diskussionen - Moskau beteuert, sie lägen weiterhin unter 500 km. Inwiefern Russland andere Waffen mittlerer Reichweite besitzt oder entwickelt, ist umstritten.
Wolfgang Richter (Oberst a.D. und langjähriger Militärberater bei UN und OSZE) hat die Waffenarsenale der NATO und Russlands in einer Studie für die Friedrich Ebert Stiftung Österreich analysiert. Sein Fazit: "Generell sind die Luft- und Seestreitkräfte der NATO denen Russlands qualitativ und quantitativ weit überlegen". Die Behauptung einer "Fähigkeitslücke" ist daher für Richter nicht glaubwürdig.
Die landgestützten US-Mittelstreckenwaffen machen vor allem in einer Hinsicht einen Unterschied: Sie eignen sich für verdeckte und schnelle Überraschungsangriffe auf Ziele wie Kommandozentralen, Radarsysteme oder Waffenstützpunkte in Russland. Das jedoch hat gravierende Auswirkungen auf das "strategische Gleichgewicht" zwischen Russland und der NATO.
Ist auch die Stationierung neuer Atomwaffen in Deutschland geplant?
Bundesregierung und US-Regierung betonen, dass nur konventionelle Mittelstreckenwaffen nach Deutschland kommen sollen. Die Bomben in Büchel bleiben damit die einzigen US-Atomwaffen in Deutschland. Tomahawk-Marschflugkörper ließen sich zwar in der Vergangenheit auch atomar bestücken, inzwischen sind jedoch keine geeigneten nuklearen US-Sprengköpfe mehr für den landgestützten Einsatz vorhanden.
Dennoch hat die Stationierung der Mittelstreckenwaffen in Deutschland eine nukleare Komponente: Sie sind mit ihren kurzen Flugzeiten sowie ihrer hoher Präzision und Sprengkraft gut geeignet, um strategische Atomwaffen im Westen Russlands angreifen. Experten halten einen solchen Angriff zwar für unwahrscheinlich, allein die Option sei jedoch destabilisierend und gefährlich. Sie führe zu einer deutlich größeren Alarmbereitschaft in Russland und erhöhe so das Risiko eines Atomkrieges "aus Versehen". Europa rückt damit einer atomaren Katastrophe deutlich näher.
Welche Fragen wirft die Ankündigung auf?
Die Ankündigung der Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland hat auf vielen Ebenen große Verwirrung ausgelöst. Zunächst muss betont werden, dass es sich nicht um ein gemeinsames Vorhaben der NATO, sondern einen "Alleingang" von Deutschland und den USA handelt. Unklar ist, ob die Partner in NATO und EU vorab eingeweiht wurden und inwiefern Deutschland damit für Spannungen sorgt - etwa zwischen Berlin und Paris.
Definitiv nicht eingebunden wurde der Deutsche Bundestag - es gab bislang keine parlamentarische Debatte und keinerlei Informationen über mögliche Kosten, die genauen Gründe und Konsequenzen der Entscheidung. Dass ein derart weitreichender Beschluss von der Bundesregierung über mehrere Monate ausgehandelt und dann am Parlament vorbei getroffen wird, empört nicht nur Abgeordnete. Es wird zu klären sein, ob die Regierung damit nicht ihre Befugnisse überschritten hat.
Vermutlich ist die Ankündigung so schnell und endgültig erfolgt, um angesichts der drohenden Wiederwahl von US-Präsident Trump konkrete Fakten zu schaffen und das militärische Engagement der USA in Deutschland zu sichern. Wie Trump zu dem (für die USA mit großem Aufwand und Kosten verbundenen) Plan steht und was im Falle seiner Wahl daraus wird, lässt sich aktuell kaum absehen. In der Vergangenheit hatte der Republikaner stets mehr militärisches Engagement Europas gefordert, um die Präsenz der USA zu reduzieren.
Droht jetzt ein neues Wettrüsten oder sogar ein neuer (Kalter) Krieg?
Russland hat auf die Ankündigung der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland bereits eine militärische Reaktion angekündigt. Es ist davon auszugehen, dass Moskau weitere, auch nukleare Mittelstreckenwaffen in Kaliningrad und an der NATO-Grenze im Baltikum stationieren wird, die auf Deutschland gerichtet sind. Anders als in den 1980er-Jahren wird das Risiko dabei nicht über alle NATO-Partner verteilt, im Fadenkreuz steht Deutschland.
Ein weiterer entscheidender Unterschied zu den 1980er-Jahren ist, dass diesmal - anders als im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses - keine Verhandlungsangebote mit der Aufrüstung einhergehen. Die Stationierung der US-Waffen in Deutschland ist ein Sargnagel für mögliche Gespräche über gemeinsame Abrüstung, ein Folgeabkommen für den INF-Vertrag oder eine Fortführung von NewSTART. Damit stehen die Zeichen tatsächlich auf Wettrüsten.
Wie steht Ohne Rüstung Leben zu den Mittelstreckenraketen?
Die bilateral ausgehandelte Stationierung der US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland ist eine neue Stufe der Eskalation. Sie schafft keine Sicherheit für die Menschen, im Gegenteil: Das Risiko eines Angriffs auf Deutschland steigt damit deutlich, ebenso die Gefahr eines Atomkrieges in Europa. Dass der Bundestag bei einer derart weitreichenden Entscheidung nicht eingebunden wurde, ist empörend und einer Demokratie nicht würdig.
Zentrales Ziel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik muss sein, eine Perspektive für eine neue Friedensarchitektur in Europa nach dem Ende des Ukraine-Krieges zu schaffen. Das kann nur mit diplomatischen Initiativen für Rüstungskontrolle, nukleare Abrüstung und Strukturen für gemeinsame Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gelingen. Die gefährliche und riskante Abschreckungslogik führt dabei in die völlig falsche Richtung
Ohne Rüstung Leben fordert die Bundesregierung daher unmissverständlich auf, die Pläne sofort zu stoppen und keine Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland zuzulassen!
Mehr Informationen
Wissenschaft & Frieden Dossier: Ein Forum zur Bedeutung neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland
Özlem Demirel / Jürgen Wagner: Frieden schaffen mit Angriffswaffen? [PDF-Download]
Stuttgarter Zeitung: Mehr Abschreckung gegen Russland - Rückkehr des Wettrüstens?
SPIEGEL: Bundeswehr soll weitreichende Marschflugkörper bekommen
taz: Langstreckenwaffen in Deutschland - Ungeteiltes Risiko
Tagesschau: Scholz verteidigt US-Tomahawks in Deutschland
Tagesschau: Eine Abschreckung, die aufschreckt
TWZ: U.S. Long-Range Missiles Headed To Germany As Arms Race Escalates
Erklärung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat die Erklärung vom 10. Juli 2024 zur Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland inzwischen von ihrer Webseite gelöscht.
Im Sinne der Transparenz dokumentieren wir hier den vollständigen Wortlaut:
Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der
Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland
Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren.
Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.
Die Beübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlichen die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.
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